Dem Schweinehund ein Beinchen stellen. XXelle-Veranstaltungsreihe "Komm in Bewegung" schreibt Erfolgsgeschichte
Müssen wir unseren inneren Schweinehund überwinden, um uns zu bewegen? Oder müssen wir uns bewegen, um unseren Schweinehund zu überwinden?
Dies fragte sich jetzt Indra Mechnich, hauptamtliche Mitarbeiterin der Aidshilfe Bochum. Schon 2015 hatte sie im Rahmen eines berufsbegleitenden Studiums die Veranstaltungsreihe "Komm in Bewegung" entwickelt. Die verschiedenen Bewegungsangebote für Frauen mit HIV und Zugehörige stießen auf erfreuliche Resonanz, und das Pilotprojekt, angeboten unter dem Dach der Vernetzung "XXelle – Frauen und HIV/Aids in NRW", rief nach Wiederholung.
So fanden von August bis November 2017 die Bewegungswochen zum zweiten Mal statt. "Durch Bewegung kommt Schwung ins Leben. Depressionen werden gemildert, Körper und Seele tanken auf", schildert Indra eine Erfahrung, die nicht zuletzt für Menschen mit einer chronischen Erkrankung hilfreich ist. Doch nicht nur für sie, denn körperliche Bewegung tut jedem gut. Grund genug, die Workshops – finanziert über den Selbsthilfefonds der Krankenkassen - erneut zu öffnen: für Angehörige und Freundinnen HIV-positiver Frauen sowie für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen von Aidshilfen.
An neun XXelle-Standorten – drei mehr als 2015 - probierten 96 Frauen in 19 unterschiedlichen Workshops vielfältige Bewegungsformen und Entspannungstechniken aus. Ungefähr zwei Drittel waren positiv. Die Frauen kamen aus verschiedenen Ländern, waren zwanzig, vierzig oder auch sechzig. Sie trafen sich bei Tai Chi, Hypnose, Yoga oder Tanz, bei Wirbelsäulengymnastik oder Resilienztraining. Jede fand etwas für sich - nicht zuletzt, weil Workshops an sechs Tagen der Woche und zu unterschiedlichen Uhrzeiten angeboten wurden. Nicht immer lief der passende Kurs in der eigenen Stadt. Aber Interessentinnen wurden ausdrücklich ermutigt, auch Angebote anderer Standorte zu nutzen. Bei Bedarf wurden Fahrt- und Kinderbetreuungskosten erstattet.
Neu war Indras Workshop mit dem lustigen Titel Dem Schweinehund ein Beinchen stellen. "Heute tricksen wir ihn einfach mal aus", versprach der Flyer. Neu waren auch die Standorte Ahlen, Bonn und Köln, die zu Aachen, Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Duisburg und Essen ins Boot stiegen. Mit ebenfalls frischen und reizvollen Angeboten im Gepäck. So schnupperte Sandra Könning, hauptamtliche Mitarbeiterin der AIDS-Hilfe Ahlen, mit fünf Frauen Höhenluft im Ahlener Klettercentrum. "Da oben? Nie im Leben!", so der entgeisterte Ausruf einer Teilnehmerin beim Anblick der Big Wall. Aber sie traute sich dann doch in die Höhe, denn eine geschulte Teamerin des Hochseilgartens begleitete die Gruppe. Wie auch alle anderen Kurse von ausgewiesenen Expertinnen geleitet wurden.
Da waren die Zusatzausbildungen mancher Aidshilfe-Mitarbeiterinnen von Nutzen. Indra selbst beispielsweise ist Hypno-Coach und Reiki-Meisterin. Maria Schneiders, ehemalige Mitarbeiterin der Aidshilfe Köln, arbeitet heute als freiberufliche Tanzlehrerin. Mit ihrem ebenfalls neuen Kurs Shakti in Motion sorgte sie für neugieriges Googeln: Shakti stehe im Hinduismus für die weibliche Urkraft des Universums, erfuhren Interessentinnen bei Wiki. Der ganzheitliche Workshop, angeboten von der Aidshilfe Köln, sollte möglichst unterschiedliche Frauen ansprechen: "Mütter, Businessfrauen. Gestandene Frauen, Frauen in Umbruchsphase. Wilde Frauen, zu nette Frauen." Sieben wagten den Versuch. Obwohl der Kurs hochschwellig war, schon allein, weil er aus vier Einzelworkshops bestand. Mehr noch: Mussten Bewegungsabläufe bei Angeboten wie Pilates oder Rückentraining überwiegend nachgeahmt werden, so bedurfte Shakti in Motion auch der Sprache. Ein Ziel wie "Körper, Geist und Seele in Einklang bringen, unter anderem durch Meditationen und kontemplative Übungen", ist durch Imitation allein nicht zu erreichen.
Die meisten Workshops hatten jedoch bewusst "Schnuppercharakter". Damit schloss XXelle eine Art Marktlücke. "Wann sonst habe ich schon die Gelegenheit, einen Sport einfach mal anzutesten? Meist muss man doch den kompletten Kurs buchen." So das Lob einer Klientin der Bochumer Aidshilfe, die übrigens auch die Workshops in Köln und Dortmund besuchte. Dass die Teilnahme frei war, schmälerte die Wertschätzung nicht. "Unsere Frauen wussten die Gratisangebote zu schätzen. Denn sie kennen die Beträge, mit denen sie etwa in einem Fitness-Studio zur Kasse gebeten werden", erläutert Indra.
Dass frau aber auch beim Schnuppern Feuer fangen kann, zeigten zwei Klientinnen der Aidshilfen Dortmund und Bochum. Die eine entflammte für Yoga. Nach dem Workshop in der aidshilfe dortmund erwarb sie eine Home Yoga DVD und trainierte zuhause weiter. Die andere, begeistert vom sanften Rückentraining der Körperwerkstatt Bochum, absolvierte nach der Schnupperstunde gleich das ganze Training. Weiterhin auf Kosten der Krankenkasse, da die Aidshilfe Bochum für eine Rehasport-Verordnung sorgte.
"Die Teilnehmerinnen profitierten von der Öffnung", berichtet Indra. Vor allem positive Kursteilnehmerinnen hätten das Miteinander von HIV-positiven und –negativen Frauen als bereichernd erlebt. "Sie fühlten sich ausreichend geschützt, um beispielsweise ganz offen ihre Medikamente einzunehmen. Gleichzeitig genossen sie, dass HIV nur eines von vielen Themen war." Sandra, Initiatorin des Kletterkurses, ergänzt: "Wir hätten eine beliebige Mädels-Gruppe sein können. Und für eine unserer positiven Teilnehmerinnen war es eine winzige Genugtuung, dass sie den höher gelegenen Parcours schaffte, während ihre HIV-negative Freundin sich wegen einer kleinen Verletzung nur auf den unteren wagte."
Die Öffnung, die Angebotsfülle und der sportliche Charakter der Kurse trugen dazu bei, dass auch Frauen teilnahmen, die Aidshilfe sonst nicht oder nur selten nutzen. Positive Frauen ohne Unterstützungsbedarf, materiell abgesichert, eingebunden in Familie und Freundeskreis, Beruf oder Studium. Die keinen inneren Schweinehund überwinden mussten, sondern sich einfach etwas Gutes tun oder einer Herausforderung stellen wollten. Und ganz nebenbei von der Begegnung mit anderen positiven Frauen profitierten.
Gäbe es auch nur einen Grund, die Reihe nicht fortzusetzen? Vielleicht nicht gleich nächstes, aber doch übernächstes Jahr? Der Organisationsaufwand sei hoch gewesen, gibt Indra zu. "Rahmenantrag an die Krankenkasse stellen, für Werbematerialien sorgen, diesen und jenen Unterlagen hinterher telefonieren…" Und damit nicht genug: Die Werbung über Flyer, Website und soziale Medien habe keineswegs ausgereicht. "Von unseren Stammklientinnen wollte jede einzelne persönlich angesprochen werden. Am besten sogar mehrmals!"
Es gibt ihn also schon - den inneren Schweinehund. Hoffen wir, dass sich auch 2019 jemand findet, der ihm unbedingt ein Beinchen stellen will!
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