Für die Stärkung der Rechte und für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen in der Sexarbeit
Die Position der LAG Frauen und HIV/Aids in NRW zur Sexarbeit
Wir, die Landesarbeitsgemeinschaft Frauen und HIV/Aids in NRW, setzen uns dafür ein, dass Frauen mit HIV weder ausgegrenzt noch anderweitig diskriminiert werden und wir wirken darauf hin, dass Frauen optimal beraten und betreut werden. Wir folgen dabei dem Grundsatz, dass Aufklärung und Beratung vor repressiven Maßnahmen Vorrang haben sollten.
Wir setzen uns für eine Entstigmatisierung und Entkriminalisierung der Sexarbeit ein. In der Sexarbeit besteht die Möglichkeit, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken. Die Praxis zeigt, dass eine effektive STI und HIV-Prävention nur dann funktioniert, wenn das Individuum in seinem Selbstwertgefühl gestärkt und ermutigt wird, eigenverantwortlich und selbstbewusst zu handeln. Wir halten es auf dieser Grundlage für sinnvoll, die Rechte von Menschen in der Sexarbeit zu stärken, damit diese ihre Arbeits-und Lebensbedingungen möglichst sicher und positiv gestalten können. Prostitution generell gleichzusetzen mit Gewalt oder gar Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung blendet aus, dass es Menschen gibt, die freiwillig in der Prostitution arbeiten. Gleichwohl können Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter Opfer von Gewalt und Menschenhandel sein. Es gibt Gesetze, die diese Straftaten ahnden.
Um gegen sexuelle Ausbeutung vorzugehen, bedarf es einer sehr genauen und differenzierten Betrachtung der Sexindustrie mit ihren vielen Facetten. Wir sind davon überzeugt, dass die Sicherheit der Frauen und Männer sich nicht durch die Abschaffung des ProstG´ erhöhen würde, sondern durch die Verhinderung der Kriminalisierung.
Unter Repressionen kann es keinen Schutz für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter geben, dass Abdrängen in gesetzliche Grauzonen fördert Kriminalität. Desgleichen wird das Risiko der im Sexgewerbe tätigen Menschen erhöht, Opfer von Gewalt und Menschenhandel zu werden. Ebenso erhöht sich die Gefahr, sich mit ansteckenden Krankheiten zu infizieren, weil die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in die Illegalität abtauchen würden und so von den Beraterinnen nicht mehr oder nur sehr schlecht erreicht werden könnten.
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter müssen die Chance haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, welches auch eine Sozial-und Krankenversicherung beinhaltet. Sexarbeit darf nicht länger stigmatisiert werden, sie benötigt Sicherheit und Anerkennung.
Vor allem aber sollten die mit in den Prozess der Veränderung eingebunden werden, die es auch betrifft: die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter selbst!
Daher unterstützen wir den "Appell für Prostitution – für die Stärkung der Rechte und für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen in der Sexarbeit" des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V. Prostitution muss unter rechtsstaatlichen und menschenwürdigen Bedingungen ausgeübt werden können. Wir wollen die Rechte der Prostituierten stärken und fordern, dass Einstiegs–, Beratungs– und Ausstiegsangebote qualitativ und quantitativ ausgebaut werden.
"Dass Frauen in Einzelarbeit flüchten, läuft dem Schutzgedanken des Gesetzes zuwider!"
Auswirkungen des Prostituiertenschutzgesetzes. Eine Sozialarbeiterin berichtet.
OPEN. Das Schild im oberen Stockwerk der Ammerter Mühle fällt nicht auf, trotz seiner roten Leuchtbuchstaben. Doch Manuela Brandt übersieht solche Schilder nicht mehr. Oft stehen sie in Fenstern unscheinbarer einzelstehender Häuser an Landstraßen. Ist Frau Brandt in Städten unterwegs, bemerkt sie instinktiv rote Herzchen auf Klingelschildern von Mietshäusern, leicht offen stehende Haustüren oder schummrig rot beleuchtete Treppenhäuser. Mithilfe solcher Zeichen, ergänzt durch Internet-Recherche und gelegentliche Hinweise von Klient*innen, hat sich die hauptamtliche Mitarbeiterin der Aidshilfe Westmünsterland in den letzten Jahren zwölf Etablissements der Bordellprostitution im Kreis Borken erschlossen, ebenso zahlreiche Wohnungen der Appartementprostitution und einige Wohnwagen (Love Mobils). Die dort beschäftigten Frauen informiert sie über HIV/Aids sowie andere sexuell übertragbare Krankheiten und klärt über Schutzmöglichkeiten auf.
"Zu Anfang waren die Frauen reserviert", berichtet Frau Brandt. Doch die Diplom-Sozialarbeiterin blieb am Ball. In lockeren, nicht zu kleinen Abständen – bloß nicht nerven! - drehte sie ihre Runde durch den Kreis, im Gepäck Kondome und attraktive Giveaways: Feuerzeuge, Tempotücher und kleine Energiespender wie Bonbons oder Fruchtgummis. Schnell lernte sie, Infoflyer nicht nur zu hinterlegen, sondern das Broschürenwissen in unverfänglichen Smalltalk einzubauen. So schloss sie Wissenslücken bei Themen wie Hepatitis, Impfung und Krankenversicherung, vermittelte an Arztpraxen – und freute sich, wenn ihr irgendwo eine Neue die Tür öffnete, der eine Etablierte zurief: "Die kannste ruhig reinlassen!"
Doch die Stimmung ändert sich. Das bekommt Frau Brandt auch beim heutigen Besuch der Ammerter Mühle zu spüren. Zwar darf sie die Bar betreten, doch Bordellmutter Melanie – bildschönes, naturblondes Langhaar, ansonsten wandelndes Klischee – wirkt mies gelaunt. Nur halbherzig bietet sie ein Glas Wasser an. „Wir bekommen keine Damen mehr“, klagt sie. Manuela Brandt hat selbst schon festgestellt, dass ihr in Häusern, wo sie früher von sechs oder sieben Frauen begrüßt wurde, nur noch drei oder vier entgegenkommen.
Der Rückzug hat Gründe. Sexarbeiter*innen, die für ihre Tätigkeit Bordell-Räumlichkeiten nutzen, sind meist Selbstständige und als solche steuerpflichtig. Gemäß Düsseldorfer Verfahren leisten sie eine Steuervorauszahlung, die je nach Bundesland zwischen 6 und 30 Euro pro Person und Arbeitstag beträgt. Betreiber*innen ziehen diese Pauschale vom jeweiligen Tagesverdienst ihrer Mitarbeiter*innen ab und leiten die Gesamtsumme einmal im Monat an die Finanzbehörde weiter. Für die Zahlungen werden Künstlernamen angegeben, die das Amt keinen realen Personen zuordnen kann. Dies kommt dem Anonymitätsbedürfnis von Sexdienstleistenden entgegen. Doch was viele bislang nicht wussten: Die Teilnahme am Düsseldorfer Verfahren befreit nicht von individueller steuerlicher Anmeldung und Offenlegung sämtlicher Einkünfte. So erzielten Besserverdienende - im Glauben, ihre Steuerpflicht erfüllt zu haben, und dies sogar verdeckt – jahrelang Schwarzeinkünfte, während Geringverdienende ihr Recht auf Steuerrückzahlungen nicht wahrnahmen.
Das Prostituiertenschutzgesetz räumt auf mit falschen Vorstellungen. Seit Inkrafttreten im Juli 2017 sind Betreiber*innen verpflichtet, ihre Sexdienstleistenden zu Gesundheitsamt und Ordnungsamt des jeweiligen Tätigkeitsbereichs zu schicken. Dort müssen sie sich einer gesundheitlichen Beratung und einem persönlichen Anmeldeverfahren unterziehen. Da das Ordnungsamt die erhobenen Daten ans Finanzamt weiterleitet, wird die lästige Notwendigkeit einer Steuererklärung deutlich. Ebenso schwer wiegt die Furcht vor Verlust von Anonymität. Denn dass die Behörden Datenschutz zusichern, beruhigt nicht. - All dies macht Angst und führt zu Rückzug.
Manuela Brandt überprüft ein Gerücht. "Stimmt es, dass die Mühle zum Jahresende schließt?“ Melanie deutet verstohlen auf zwei junge Frauen, die, aus den oberen Räumen kommend, soeben die Bar betreten haben und jetzt in einer Sitzecke ihre Smartphones checken. „Leise, die Mädels wissen das noch gar nicht“, warnt sie. „Ja, der Chef hat vergessen, den Pachtvertrag zu verlängern. Jetzt muss er das Haus aufgeben.“ Sie hofft auf Übernahme der Ammerter Belegschaft durch das Bordell der Nachbarstadt. „Doch kein Mensch weiß, ob dieser Laden nicht auch dichtmacht. Der Inhaber hat für 200.000 Euro umgebaut, aber monatelang keine Miete gezahlt. Jetzt hat er Schulden."
Das Versäumnis, den Pachtvertrag zu verlängern, sei vermutlich Ausrede, erklärt Manuela Brandt. Sie glaubt, dass die offensichtlich bevorstehende Schließung der Mühle in Wahrheit auf die Erlaubnispflicht zurückzuführen ist, die Betreiber*innen von Sexdienstleistungs-Unternehmen seit Mitte 2017 zu erfüllen haben. Inhaber*innen von Erotik-Betrieben, darunter auch Tantra-Studios, Escort-Agenturen und vergleichbare Einrichtungen, benötigen eine neue Form der Konzession. Der Erhalt dieser ‚Erlaubnis‘ ist an strenge Bedingungen geknüpft: Vorlage eines Betriebskonzepts, Bereitstellung von Kondomen sowie Hinweise auf Kondompflicht für Kunden. Club-Inhaber*innen dürfen nicht mehr mit Option auf Sex ohne Kondom werben. "Doch ins Geld gehen bauliche Auflagen", erläutert Frau Brandt. U. a. werden Notrufsysteme verlangt, ebenso getrennte sanitäre Einrichtungen für Frauen und Männer sowie eine Trennung von Arbeits- und Schlafräumen. "Zweifellos dienen Notrufe dem Schutz von Sexarbeiter*innen, der ja erklärtes Ziel des Gesetzes ist", meint Manuela Brandt. "Aber meiner Erfahrung nach macht es Sexarbeiter*innen nichts aus, in ihren Arbeitsräumen auch zu schlafen."
Von den zwölf Betrieben, die Frau Brandt im Laufe ihrer Präventionstätigkeit aufgesucht hat, bestehen nur noch acht. Sie ist überzeugt, dass einige dieser Häuser dem neuen Gesetz zum Opfer gefallen sind. Auch in der Wohnungsprostitution bemerkt sie Veränderungen. "Da machen etwa Appartements dicht, in denen sich zwei Sexarbeiter*innen zusammen-geschlossen hatten", berichtet sie. "Denn schon solche gelten als Betrieb."
Die Sozialarbeiterin räumt ein, dass Sexarbeiter*innen, die trotz neuer Gesetzeslage Bordelltätigkeit ausüben, in auflagengerecht renovierten Häusern komfortable Arbeitsbedingungen vorfinden. Doch hierfür werden sie ungerührt zur Kasse gebeten, denn Betreiber*innen sind bestrebt, Modernisierungskosten wieder hereinzuwirtschaften. Probates Mittel: drastische Erhöhung von Raumnutzungsgebühren. - Parallel zu diesem Geschehen gehen bescheidene, aber einigermaßen sichere Arbeitsplätze verloren, darunter Wohngemeinschaften der Appartementprostitution. "Dass Frauen jetzt in Einzelarbeit flüchten, läuft dem Schutzgedanken des Gesetzes gründlich zuwider!"
Frau Brandt setzt ihre Präventionsarbeit unbeirrt fort. Gelegentlich weist sie nebenbei darauf hin, dass Frauen gut daran tun, sich Steuervorauszahlungen und Verdienste bescheinigen zu lassen und Belege über Werbungskosten, die bei Kauf von Kleidung, Kosmetika, Kondomen und anderen Hygieneartikeln entstehen, sorgfältig aufzubewahren. "Wer keine Nachweise erbringt, dessen Steuerlast wird geschätzt", schließt sie, "und das wohl kaum zum Nachteil des Finanzamts!"
Gesundheitsberatung für Prostituierte. Schützt sie – oder schadet sie nur nicht?
Kreis und Kreisstadt Borken liegen im westlichen Münsterland. Eine große, ländliche Region, 1418 qkm, 370 000 Seelen. Auch hier gilt seit Juli 2017 das neue Bundesgesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von Menschen, die in der Prostitution tätig sind. Unter anderem unterliegen Prostituierte einer persönlichen Anmeldepflicht, der eine individuelle gesundheitliche Beratung vorgeschaltet wird.
Im Gesundheitsamt des Kreishauses in Borken macht Katja Roth sich auf die Suche nach Zimmer 1074. Der Raum liegt versteckt, zweigt ab von einem kleinen Windfang, durch den man das Gebäude verlassen kann. "Gut gelöst", denkt sie und inspiziert das Türschild. Gesundheit, steht darauf, Gesundheitsberatung eine Zeile tiefer und darunter der Name der Frau, mit der sie einen Termin vereinbaren möchte: Doris Baron, Diplom-Sozialarbeiterin. Nichts lässt erkennen, dass Frau Baron Prostituierte berät. - Die Tür ist abgeschlossen. Katja verlässt den Windfang und nimmt im angrenzenden Wartebereich Platz. Auf dem Broschürenständer findet sie Informationen zu Sucht, Depression und Burnout. Infos für Frauen mit Gewalterfahrung. Broschüren über HIV und AIDS und, aha, DIN-A-4-Faltblätter mit dem Titel Prostituiertenschutzgesetz. Informationen über das Verfahren zur Anmeldung einer Prostitutionstätigkeit. Allmählich wird ihr beklommen zumute. Sie nutzt jedoch ihre Chance, als sie im Flur eine Dame mit einem Aktenstapel auf Zimmer 1074 zugehen sieht. "Sind Sie Frau Baron?" Nein, die sei in der Druckerei, erfährt sie. Die Dame ist aber hilfsbereit, beinahe fürsorglich, schreibt eine Telefonnummer auf, fragt, ob Katja zurückgerufen werden möchte. Diese verneint, will aber wissen, wie sie zum Ordnungsamt kommt. Was denn genau ihr Anliegen sei. "Das wollte ich alles mit Frau Baron besprechen", antwortet Katja, mittlerweile leicht verzweifelt. Die eifrige Dame nickt verständnisvoll, lässt es sich aber nicht nehmen, sie in ein Büro im ersten OG zu lotsen…
Wenige Tage später sitzt Katja, Journalistin auf Recherche für einen Artikel über regionale und lokale Umsetzung des Prostituiertenschutzgesetzes, in Doris Barons kleinem Büro. Seit 2017 müssen Prostituierte dieses Zimmer passieren, bevor sie, nach erfolgter Gesundheitsberatung, ein Stockwerk höher ihre Anmeldung beim Ordnungsamt durchführen. Ein ansprechender Raum, nicht zu viel Infomaterial, hier und da ein persönlicher Gegenstand. An der Wand diskrete Hinweise auf die neue Kondompflicht für Freier sowie auf die Beratungsapp „Lola“ für Sexdienstleistende. Doch Blickfang ist ein farbenfrohes Plakat, das zu einem Chopin-Klavierwettbewerb einlädt. Chopin – kaum der dominierende Musikgeschmack von Doris Barons Klient*innen, aber "täuschen Sie sich nicht, darunter sind einige Frauen mit gänzlich bürgerlichen Hauptberufen!"
Frau Baron bekleidet ihre neugeschaffene halbe Stelle seit Inkrafttreten des Gesetzes. Zuvor arbeitete sie 20 Jahre im sozialpsychiatrischen Dienst. "Es gibt nichts, was es nicht gibt", hat sie dort gelernt, "und hätte ich diese Beratungserfahrung nicht gehabt, wäre das Gespräch mit meinen ersten Klientinnen nach drei Minuten zu Ende gewesen." Denn ihre Ratsuchenden suchen keinen Rat. "Sie winken ab, wissen alles, betonen ihre Professionalität." Doris Baron stülpt niemandem etwas über, lässt sich aber nicht abwimmeln. Sie präsentiert unterschiedliche Kondome, setzt gelegentlich die Genitalmodelle von Paomi ein und erläutert anhand eines Beckenmodells anatomische Zusammenhänge. Ihr Fachwissen bezieht sie aus zahlreichen Fortbildungen, in denen ihr u. a. ein Leitfaden zur Gesundheitsberatung nach §10 ProstSchG an die Hand gegeben wurde. Dieser deckt von Hygiene, Verhütung und Schwangerschaft, Alkohol und Drogen bis hin zu sexuell übertragbaren Infektionen alles ab. Reichen die Deutschkenntnisse einer Klient*in nicht aus, wird eine Videodolmetscher*in hinzugezogen; bislang benötigt wurden Spanisch und osteuropäische Sprachen. - Viele Frauen tauen auf und bleiben länger als die für Gesundheitsberatung veranschlagten 30 Minuten. Eine körperliche Untersuchung findet nicht statt. Aber nicht wenige Klient*innen nutzen nach dem Gespräch die im Hause angebotene anonyme und kostenlose HIV- sowie Syphilistestung.
Doris Baron hat dieses Jahr 70 Prostituierte gesehen, meist Frauen. Bis zum Jahresende werden ca. 30 weitere hinzukommen. 100 Beratungen pro Jahr – man hatte mit deutlich höheren Zahlen gerechnet. Offensichtlich fallen einige Sexdienstleistende durch die Maschen, obwohl es im Kreis keinen Straßenstrich gibt, wo versucht wird, sich dem Gesetz zu entziehen. – Viele Klient*innen waren "40 aufwärts", nur drei unter 21. Sie arbeiteten in Bordellen und Privatwohnungen, manche auf Parkplätzen. Eine gewisse Elite, vielleicht. Bisher erschien niemand traumatisiert oder lieferte Hinweise auf Gewalterfahrung. Keine Frau war sichtbar schwanger. Fast alle gaben an, krankenversichert zu sein und sich regelmäßig ärztlich untersuchen zu lassen. "Aber da wird wohl manches Mal Schönfärberei betrieben", meint Frau Baron. Im Zweifelsfall verweist sie auf einen Bocholter Verein, wo Personen ohne Krankenversicherung kostenfreie medizinische Sprechstunden in Anspruch nehmen können.
Wie es um die Anonymität der Gesundheitsberatung bestellt sei, fragt Katja. Frau Baron muss sich den Ausweis ihrer Klient*innen zeigen lassen und einen Blick auf Lichtbild und Geburtsdatum werfen. Doch steht sie unter Schweigepflicht und stellt vor jedem Gespräch klar, dass sie selbst keine Daten speichert oder gar weiterleitet. Etwa ans Jugendamt, wie einige Frauen befürchten, wenn sie Kinder haben. Auf der von ihr ausgestellten Bescheinigung stehen nur Beratungsdatum, Geburtsdatum sowie ein Name. Bislang hat niemand seinen Klarnamen angegeben. Alle verwendeten einen oder sogar mehrere Pseudonyme und erhielten die entsprechende Anzahl an Aliasbescheinigungen.
Die Kernfrage: Schützt das neue Gesetz? Filtert vielleicht gerade die Gesundheitsberatung Menschen heraus, die zur Prostitution gezwungen werden? Die hilflos, Opfer von Ausbeutung oder gar Menschenhandel sind? Doris Baron ist skeptisch. Wie sollen im Setting einer Behörde und in der Kürze der Zeit Problemlagen erfasst oder gar versteckte Hilferufe vernommen werden? - Die Klient*innen selbst betrachten das neue Anmeldeverfahren nicht als Chance, sondern als Auflage. Zumal die Beratung mindestens einmal im Jahr wiederholt und die Anmeldung danach verlängert werden muss.
Aber das Gesetz ist in Kraft, und Doris Baron tut alles, ihren Klient*innen zu nutzen und nicht nur nicht zu schaden. Wiederholungsberatungen hat sie selten, denn Sexdienstleistende sind mobil. Doch immer wieder erscheinen Frauen ein zweites Mal: als Begleiterin nämlich einer neuen Anmeldepflichtigen. "Ich hätte da doch nochmal eine Frage", heißt es dann. – Wenn das kein Kompliment ist!
Ein Abend in der Dortmunder Nordstadt
Im gesamten Dortmunder Stadtgebiet ist die Straßenprostitution seit 2011 verboten. Wer dem zuwider handelt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen, die bei 260,- Euro Bußgeld beginnen und im schlimmsten Fall bei mehrtägiger Haft enden. Trotzdem gibt es Frauen, die dort außerhalb von Bordellen ihrem Gewerbe nachgehen. Die Nordstadt ist praktisch, sie ist innenstadtnah und daher gut frequentiert, hat eine gute Infrastruktur, so dass man sich auch mal schnell einen Kaffee holen oder irgendwo aufwärmen kann. Läden für Geldtransfers sind 24 Stunden lang geöffnet, man bekommt etwas zu essen. Es ist alles da.
Die meisten der Sexarbeiterinnen auf dem Straßenstrich in Dortmunds Nordstadt finanzieren mit ihrer Arbeit ihre Drogensucht. "Das Geld reicht immer für den nächsten Konsum von was auch immer" sagt Meike Serger von der Dortmunder Mitternachtsmission dazu. Nur ein Bruchteil der Frauen bezieht Arbeitslosengeld. Sie brauchen das schnelle Geld dringend und gehen dafür auch über Grenzen. Sex ohne Kondom wird von zahlreichen Freiern bevorzugt und für 10 Euro mehr auch von zahlreichen Frauen in Not geliefert.
Und weil das in ähnlicher Form schon immer so war, ist die Dortmunder Mitternachtsmission seit 1988 auf den Straßen der Nordstadt kontinuierlich präsent. Meike Serger und ihre Kolleginnen – eine weitere hauptamtliche und acht Honorarkräfte – sind zweimal täglich vor Ort. Tagsüber meist allein, am Abend gehen sie zu zweit. Manchmal begleitet von einer Sprachmittlerin, die sich auch oft alleine auf den Weg in die Nordstadt macht. Sie suchen die Frauen auf der Straße auf, gehen in die Anbahnungsorte wie Kneipen und Gaststätten, auch mal in Diskotheken, wo sie auf die jüngeren Sexarbeiterinnen treffen. Dort verteilen sie mehrsprachige Flyer und anderes Infomaterial, Kondome, Tempos, aber auch die XXelle Gummibärchen sind ausgesprochen beliebt, denn – so Meikes Erfahrung: Drogenabhängige Frauen lieben Zucker. Und es müssen kleine Give aways sein, also keine Schokoladetafeln, sondern eben diese kleinen Gummibärtütchen, die schnell verzehrt nicht zu unnötigem Ballast werden. Und nebenher neugierig machen, auf XXelle, auf Aidshilfen und ähnliche Angebote.
Die Frauen der Mitternachtsmission machen sich stets zu anderen Zeiten auf den Weg in die Nordstadt. So haben sie die größte Chance, jeder der Frauen auch zu begegnen. In der Regel treffen sie bei einer Runde auf acht bis 30 Frauen. Das hängt von Faktoren wie der persönlichen Tagesform, dem Wetter oder auch davon ab, ob es sich um den Monatsanfang oder das Monatsende handelt. Zum Ende des Monats sind mehr Frauen auf der Straße. Früher waren es über das Jahr verteilt bis zu 700 Sexarbeiterinnen auf dem legalen Straßenstrich in der Nordstadt, 2015 hat man insgesamt 138 Frauen gezählt, wovon 98 Frauen der Beschaffungsprostitution nachgingen.
Koordiniert werden die Einsätze von Meike Serger und Hanna Biskoping, der zweiten hauptamtlich Beschäftigten. Sie setzen sich im zwei-Wochen-Rhythmus mit allen Streetworkerinnen zusammen und erstellen die Einsatzpläne. Dabei besprechen sie auch, was sie in den vergangenen Wochen erlebt haben, wen sie angetroffen haben, wer neu ist im Kiez und was unbedingt gemacht werden muss. Alle Streetworkerinnen müssen wissen, was los ist, was in der Vorwoche passiert ist, welche Frau vielleicht aus Haftgründen in den nächsten Wochen nicht auftauchen wird und welche Frau vielleicht gerade aktuell welche Probleme hat. Denn es geht bei ihrer Arbeit nicht nur darum, Kondome zu verteilen. Wenn man sich kennt, begrüßt man sich auch, manche Sexarbeiterin winkt schon von weitem und nutzt den Besuch für eine kleine Gesprächspause. Sie gehen gemeinsam etwas essen oder trinken und besprechen, was gerade anliegt. Über das Essen – so Meike – geht viel bei den Frauen! Dabei sind Meike und ihre Kolleginnen von der Mitternachtsmission Helferinnen für jede Lebenslage. Sie unterstützen die Frauen bei Behördengängen, machen mit ihnen Entgiftungs- oder auch HIV-Testtermine, besorgen ihnen Kleidung oder bieten ihnen einen Platz zum Duschen. „Wir sind Überlebenshelfer“ sagt Meike dazu.
Allen Frauen versuchen sie eine Änderung ihres Lebensstils und ihrer persönlichen Verhältnisse nahezubringen und sie zu einer Substitutionsbehandlung oder zum Ausstieg aus der Prostitution zu ermutigen. Natürlich ist nicht jede Angesprochene offen dafür oder kann aufgrund der Sprachbarriere überhaupt verstehen, was gemeint ist.
Die Frauen der Mitternachtsmission begleiten die vorwiegend aus Bulgarien stammenden Sexarbeiterinnen zu HIV-Tests und sorgen für die weitere Behandlung, wenn der Test positiv ausfällt. Die Frauen sind meist nicht versichert und kaum in der Lage, eine ärztliche Behandlung privat bezahlen zu können. Dank der guten Zusammenarbeit mit dem Dortmunder Gesundheitsamt gibt es aber auch hier Möglichkeiten. Meike und ihre Kolleginnen melden den jeweiligen Fall telefonisch an und man prüft dort, was konkret für die Frau getan werden kann. An zwei Terminen in der Woche bietet das Amt auch eine gynäkologische Sprechstunde für nicht-krankenversicherte Frauen an.
Zusätzlich steht den Frauen in Dortmund fünfmal wöchentlich der mobile medizinische Dienst kostenfrei zur Beratung und Untersuchung zur Verfügung. Auch hierbei handelt es sich um ein Angebot des Gesundheitsamtes.
HIV ist für die Sexarbeiterinnen in der Nordstadt grundsätzlich ein großes Angstthema. Für diejenigen, die tatsächlich HIV-positiv sind, ist es besonders schwierig. Ohne festen Wohnsitz und unter dem Einfluss von Drogen ist eine auf Dauer regelmäßige Einnahme von Medikamenten kaum realisierbar. Daher besteht bei diesen Frauen die Gefahr, dass sich Resistenzen bilden und Folgekrankheiten vermehrt auftreten. Hinzu kommt, dass viele der bulgarischen Frauen oft einfach noch unwissend sind und glauben, dass man gesund ist, solange nichts zu sehen ist. "Hier gibt es noch viele dicke Bretter zu bohren!" kommentiert Meike.
Für Ihre Arbeit auf den Straßen der Nordstadt brauchen die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission viel Geduld, eine hohe Frustrationstoleranz, viel Freude an kleinen Erfolgen und viel Kreativität. So versucht Meike ihre Frustration, die dann und wann entsteht, in konstruktive Energie umzuwandeln. Auf diese Weise kam sie gemeinsam mit den anderen einmal auf die Idee, Kondome mit Erdbeergeschmack zu verteilen, um so die Sexualpraktik "Französisch mit Kondom" zu lancieren. Es bedarf kreativer Lösungsansätze und eines guten Aufhängers, um ein Thema bei den Frauen anschneiden und platzieren zu können.
Und wenn es dann so ist, dass eine der Klientinnen der Mitternachtsmission es geschafft hat, ihre Entgiftung durchzuhalten, die Straße zu verlassen und heute an ihrem Führerschein und ihrer Zukunft arbeitet, dann hat sich alles gelohnt. "Alles ist möglich!" – mit dieser Erfahrung und diesem Wissen startet jeder neue Tag für die Mitarbeiterinnen der Dortmunder Mitternachtsmission.
Die Dortmunder Mitternachtsmission gehört zu den Gründungsmitgliedern der Landesarbeitsgemeinschaft Frauen und HIV/Aids in NRW und engagiert sich dort regelmäßig.