Mit HIV in die Jahre gekommen. Aufgeben ist keine Option
Stacy, Silvia, Renée, Victory, Ada und Anke. Fünf Frauen zwischen 44 und 62, fünf individuelle Biografien. Es gibt zwei Verbindungsmerkmale: Alle sind HIV-positiv und haben ein Alter erreicht, das die Medizin als meno- bzw. postmenopausal bezeichnet. – Was berichten diese Frauen über eine Lebensphase, in der sie und ihre Infektion "in die Jahre gekommen" sind?
Da ist zunächst die Menopause selbst, die in Deutschland meist zwischen 51 und 53 Jahren erreicht wird. Silvia, Ada und Victory sind zu diesem Zeitpunkt vierzig, Stacy, Renée und Anke 43, 48 und 49. Silvia, Renée und Victory zeigen heftige Wechseljahrssymptome, wobei vor allem Schlafstörungen und migräneartige Kopfschmerzen ins Gewicht fallen. Bei drei der Frauen lässt die Libido deutlich nach. Alle fünf leiden unter Schwitzattacken und erleben Stimmungsschwankungen von Reizbarkeit über Übellaunigkeit (Victory: "Ständig sauer auf nix") bis hin zu Sentimentalität (Silvia: "Vorm Fernseher zerfließe ich in Tränen!"). Victorys Wechseljahrsdepression bedarf medizinischer Behandlung, die Antidepressiva führen zu beträchtlicher Gewichtszunahme, letztere verstärkt ihre Gelenkschmerzen. - All dies mag Zufall sein, entspricht aber dem aktuellen medizinischen Forschungsstand, wonach viele Frauen mit HIV beim Eintritt in die Menopause jünger sind als 51 bis 53 und tendenziell mehr Symptome zeigen als Frauen ohne Infektion.
Dr. Doris Reichelt ist Oberärztin der Ambulanz für erworbene Immunschwäche des Uniklinikums Münster. Sie berichtet, dass viele ältere Patientinnen neben HIV weitere chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Funktionsstörungen der Schilddrüse, Knie- und Hüft-Arthrosen, Schädigungen der Wirbelsäule und Krebserkrankungen haben. „Diese Krankheiten, deren Therapie-Regime im Gegensatz zur Behandlung von HIV meist hohe Ansprüche an Disziplin und Compliance der Patientinnen stellt, stehen in der Regel in keinem Zusammenhang mit HIV. Sie führen aber oft zu erheblich stärkerer Beeinträchtigung.“ Vier unserer Frauen passen in dieses Bild. Glücklicherweise sind Ankes Blasenkrebs und Renées Hepatitis C geheilt; Victorys Bauchspeicheldrüsenkrebs ist in Remission. Nicht so Silvias Multiple Sklerose, die sie als schweres Handicap erlebt. Die Chronizität der HIV-Infektion hingegen finden alle sechs Frauen unproblematisch. Kontrolluntersuchungen sind nur einmal im Quartal notwendig. Und im Vergleich zu den Anfangszeiten, so Silvia und Renée als Langzeitpositive, seien die Medikamente nebenwirkungsarm und die Einnahme "ein Puppenspiel".
Deutlich wird, dass gesundheitliche Beeinträchtigung keine unwesentliche Rolle spielt. Daneben wirken sich einige psychosoziale Faktoren auf das Lebensgefühl der Frauen aus.
Erfreulich: Selbststigmatisierung kommt in diesem Lebensalter kaum noch vor. Sogar Silvia, die in Selbsthilfe-Gruppen der Aidshilfe Ermutigung erfahren hat, ist über die Scham und Verdrängung ihrer jungen Jahre hinausgewachsen. Auch einer Fremdstigmatisierung begegnen die Frauen meist souverän. Zwar binden sie ihre Infektion niemandem aufs Auge, sehen aber heute einem unfreiwilligen Geoutet-Werden gelassen ins Auge. "Da steh ich doch drüber", meinen sowohl Stacy als auch Renée, wenn sie sich unqualifizierte Reaktionen ihres Umfelds vorstellen. Einzig die Kamerunerin Victory und die Nigerianerin Ada hüten nach wie vor ihr Geheimnis. Als stolze Frau aus afrikanischem Landadel will Victory gehässiges Getuschel unbedingt vermeiden. Ihre Strategie: Im Gegensatz zu ihrer Landsmännin Stacy, die in der Aidshilfe ihrer Stadt die Migrant*innen-Selbsthilfe rockt, hält Victory sich von anderen Positiven konsequent fern.
Neben gewachsenem Selbstbewusstsein und Souveränität finden sich Verletzlichkeit und eine Portion Resignation. "Ich werde weicher, dünnhäutiger", erzählt Anke. "Ich bin nicht mehr so unbeschwert wie früher. Z. B. wenn ich beim Tanzen einen Mann kennenlerne, mit dem ich mir eine Partnerschaft vorstellen könnte." Obwohl Anke, wie die vier anderen, dank erfolgreicher Therapie sexuell nicht infektiös ist, weiht sie Partner in ihre HIV-Infektion ein. "Immer wieder Erklärenmüssen und diese nach wie vor komplette Ignoranz bezüglich HIV", seufzt sie. "Das macht mich mittlerweile müde und traurig."
Ein in höherem Alter nicht zu unterschätzender Faktor ist das Leben am Existenzminimum. Als Betreuungsassistentin, Friseurin, Apothekenhelferin, Reinigungskraft und Tierarzthelferin – meist in Teilzeit - erzielt/e keine der fünf Frauen ein hohes Einkommen. Bis auf Renée, die zusätzlich zu eigenem Verdienst über ihren Mann abgesichert ist, sind alle auf staatliche Unterstützung angewiesen. "Früher habe ich das locker weggesteckt", erzählt Silvia. Einmal im Monat, wenn es Neugeld gab- so erfahren wir - hat sie ihrer Tochter ein Ü-Ei und ein Happy Meal spendiert. "Das war für uns beide das Größte!", erinnert sie sich. "Aber auf Dauer macht diese ständige Rechnerei mit dem spitzen Bleistift total mürbe!"
Mit zunehmendem Alter immer schmerzlicher vermisst wird Partnerschaft. Nur Renée und Silvia erleben die Geborgenheit einer langjährigen Beziehung. Beide sind glücklich verheiratet. Renée erzählt von ihrer Silberhochzeit – erstaunt und dankbar, dieses Fest überhaupt erreicht zu haben. Auch Victory ist verheiratet, aber ihr Mann lebt im Kamerun. Seitdem der dortige Bürgerkrieg eskaliert, hat sie ihn nicht mehr besucht. Sehnlichst hofft sie, dass ihren in den USA lebenden Verwandten eine Familienzusammenführung auf amerikanischem Boden gelingt. – Doch ob mit oder ohne Partner, mit Kindern (Ada, Stacy, Silvia, Victory) oder kinderlos (Renée, Anke) – alle sechs Frauen haben herzliche Verbindungen innerhalb ihres sozialen Umfelds und/oder ihrer Familie. Trotzdem beschreibt Anke ein gelegentliches Gefühl, das Einsamkeit nahe kommt: Sie hat Vater und Mutter früh verloren, ihr Bruder verstarb vor drei Jahren. "Zwei chronische Erkrankungen, ein Leben auf Hartz IV-Niveau, keine nährenden familiäre Bindungen - das ist ein schweres Paket. Sometimes I feel like a motherless child…"
Doch Aufgeben ist keine Option. Ältere Frauen mit HIV, so auch Doris Reichelt, erscheinen insgesamt als ebenso zuversichtlich und lebenstüchtig wie andere Frauen ihrer Altersgruppe. Bei einigen afrikanischen Patientinnen beobachtet die Ärztin sogar beruflichen Aufbruch: "Familiäre Probleme – mit Partnern, mit pubertierenden Kindern – haben die Frauen hinter sich gelassen. Und starten plötzlich durch. Gehen in die Altenpflege, schrecken nicht zurück vor mehrjähriger Ausbildung!" – Stacy arbeitet schon lange als Seniorenbetreuerin. Aber ihre wiederkehrenden Leistenbrüche verbieten eine dauerhafte Tätigkeit in der Altenpflege. Unbeirrt begibt sie sich auf neue Pfade, erstrebt Selbstständigkeit als Kranken- oder Schulfahrerin. Ihren Personenbeförderungsschein hat sie vor kurzem bestanden. Bravo!
Dr. med. Doris Reichelt
Wie wirkt sich eine HIV-Infektion auf den Alterungsprozess von Frauen aus? Die Frage ist aus medizinischer Sicht schwierig zu beantworten. Die Studien zu Beschwerden rund um die Menopause sind widersprüchlich. Ein frühes Eintreten in die Wechseljahre z. B. oder ausgeprägtes nächtliches Schwitzen können HIV-, aber auch genetisch bedingt sein. In unserer Ambulanz sehen wir sowohl Patient*innen mit keinen oder mäßigen Übergangsbeschwerden als auch Frauen, die sämtliche Symptome zeigen. Oft empfehlen wir, frauenärztlichen Rat einzuholen, besonders bei meno- oder postmenopausalen Depressionen. Ggf. leitet die Gynäkolog*in eine Hormonsubstitutionstherapie ein, die Wechseljahrsbeschwerden deutlich lindert. Der Verdacht, dass Hormonersatzbehandlungen Krebs verursachen, hat sich nicht bestätigt. Auch vertragen sich diese Behandlungen meist gut mit den modernen HIV-Medikamenten.
Im Vergleich zu früher haben die heutigen gegen das HI-Virus wirksamen Medikamente kaum Nebenwirkungen und sind leicht einzunehmen. Oft reicht eine Tablette pro Tag. In der Regel müssen Patient*innen sich nur einmal im Quartal in der Ambulanz vorstellen. Dass HIV zu den chronischen Erkrankungen zählt, empfinden daher nur noch wenige Frauen als Belastung. Hingegen wissen sie zu schätzen, dass sie als Chroniker*innen, statt der üblichen zwei, nur ein Prozent ihres Bruttogehalts für gesetzliche Zuzahlungen zu den Krankenkassenleistungen aufbringen müssen.
Silvia, 49
Meine Mutter kam schon mit vierzig in die Wechseljahre, ich mit 43. Ich bin jetzt 49 und immer noch nicht durch mit dem Thema. Richtig übel finde ich die Schwitzattacken. Nachts muss ich mich mehrmals umziehen und meistens auch einmal die Bettwäsche wechseln. Das macht mich nervös, weil der Nachtschweiß mich an den Anfang meiner HIV-Infektion erinnert. Da hatte ich das auch. Seit kurzem mache ich eine leichte Hormontherapie, und tatsächlich ist es seitdem schon etwas besser geworden. Die Lust auf Sex lässt allerdings nach. Das ist nicht schlimm, denn bei meinem Mann ist es genauso. Kuscheln tun wir aber immer noch viel. Von HIV merke ich überhaupt nichts. Das war nicht immer so. Meine erste Therapie, vor ungefähr zwanzig Jahren, bestand aus acht Pillen. Riesige Oschis, ich habe immer zwei Stunden gebraucht, bis ich die runter hatte. Also, HIV kein Problem, aber meine Multiple Sklerose nervt. Wahrscheinlich habe ich sie schon länger als HIV. Wegen der MS hatte ich sogar schon ein paar Schlaganfälle. Ich würde sagen, HIV und ich verstehen uns. Aber die MS bringt mich zur Weißglut.
Renée, 57
Mit 30 bekam ich meine HIV-Diagnose, und ungefähr gleichzeitig stellte sich heraus, dass ich auch Hepatitis C hatte. Das war 1992, die Kombitherapie gab es damals noch nicht, und auch die Hepatitis war nicht behandelbar. Mein Mann und ich mussten davon ausgehen, dass ich jung sterben würde. Es ist Gottseidank anders gekommen. Wobei mir das am Anfang sogar Angst gemacht hat. Plötzlich musste ich über Dinge wie Rente und Zusatzrente nachdenken, über Osteoporose und altersgerechtes Wohnen. Die heutigen HIV-Medikamente vertrage ich gut. Aber mit den frühen Kombitherapien bin ich durch die Hölle sämtlicher Neben-wirkungen gegangen. So wie ich übrigens auch in meinen Wechseljahren kein Symptom ausgelassen habe. Ich war 48, als die Menopause anfing. Am schlimmsten fand ich die Schlafstörungen. Und ich bekam Migräne, völlig neu für mich. Ich habe alles ignoriert und keinerlei Tabletten genommen, vor allem keine Schlafmittel. Und irgendwie kam ich besser durch diese Phase als meine Freundinnen. Vielleicht, weil ich früh gelernt habe, auf mich zu achten - gute Ernährung, ausreichend Schlaf, null Alkohol. Heute habe ich keine gesundheitlichen Einschränkungen mehr. Im Gegenteil, als meine Ärztin mir vor vier Jahren das neue Hepatitis-Medikament verschrieb, war ich meine Hep C nach wenigen Monaten los. Es folgte ein regelrechter Powerschub: Plötzlich kam ich überhaupt nicht mehr an meine Leistungsgrenze! Meine Familie erlebt mich als sehr stark. Meine beste Freundin sagt: "Deine Krankheiten haben dich zu der gemacht, die du bist." Aber ganz ehrlich: Diese Art von Prüfungen hätte ich nicht gebraucht. Andere Herausforderungen, z. B. ein Kind, wären mir lieber gewesen!
Ada, 59
Ich bin jetzt 59, und HIV spielt in meinem Leben überhaupt keine Rolle mehr. So wenig, dass ich regelmäßig vergesse, wann ich eigentlich das nächste Mal zu meiner Ärztin muss. Das einzige, worauf ich immer noch achte, ist, dass ich mich nirgendwo oute. Um andere HIV-Patienten mache ich einen riesigen Bogen. Meine Familie und die afrikanische Community wissen nichts. Es wird mir einfach zu viel gequatscht, und man wird immer noch stigmatisiert. Die Wechseljahre, mit vierzig, waren nervig. Vor allem die Schlafstörungen. Ich bin oft erst in den frühen Morgenstunden eingeschlafen, und zwei Stunden später klingelte der Wecker. Das ist jetzt alles besser. Aber was mich traurig macht, ist, dass ich keinen Mann habe. Ich hatte immer mal wieder einen Freund aus der Communitiy. Und natürlich habe ich nie etwas von HIV erzählt, ich bin ja nicht ansteckend. Aber keiner meiner Freunde meinte es wirklich ernst. Jetzt im Alter allein zu sein, finde ich hart. Schlimm ist auch die ewige Geldnot. Ich arbeite als Reinigungskraft, und einen großen Teil meines Lohns schicke ich zur Familie nach Afrika. Aber es gibt auch viel Gutes in meinem Leben. Ich bekomme alle Medikamente, die ich brauche. Meine sieben Kinder und 13 Enkel sind gesund, drei davon leben in Deutschland. Und seit kurzem habe ich einen deutschen Pass. Darüber bin ich sehr glücklich. Danke, Deutschland!
Anke, 62
Meine Menopause begann mit 49 und war unauffällig, von gelegentlichen Schwitzattacken abgesehen. Dass ich zu diesem Zeitpunkt längst HIV-infiziert war, wusste ich nicht. Die Diagnose bekam ich erst mit 57. Die hat mich aber kaum geschockt, viel weniger als mein Blasenkrebs sieben Jahre früher. Bei HIV war ich einfach nur froh, dass es heute so gute Medikamente gibt und es mir bald wieder besser ging. Jetzt bin ich 62 und genauso gesund und fit wie vor meinen Erkrankungen. Mein Krebs ist geheilt. Ich rauche nicht mehr, weil die Raucherei den Blasenkrebs verursacht hat. Von HIV merke ich nichts. Aber belastend finde ich die ständige Geldnot, gerade jetzt, wo ich älter werde. Ich war Tierarzthelferin, aber Berufstätigkeit ging irgendwann nicht mehr. Doch selbst wenn ich bis zur Altersgrenze durchgearbeitet hätte, wäre meine Rente minimal ausgefallen. Also, wenn ich mein Leben nochmal leben könnte, würde ich fast alles genauso machen. Ich würde wahrscheinlich sogar wieder rauchen, und natürlich würde ich ein Liebesleben haben. Ich stigmatisiere mich nicht dafür, dass ich mich über Sex infiziert habe. Aber eines würde ich ändern: Ich würde studieren und einen Beruf wählen, in dem ich mehr verdiene, so dass ich fürs Alter sparen kann.
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POSITHIV HANDELN
POSITHIV HANDELN steht für Information, Integration und Akzeptanz und trägt dazu bei, dass Menschen mit HIV sich austauschen können, dass sie sich trösten, stärken, schlau machen und selbstbewusst werden können.